Virtuelles Rennen im Dienste der Schweiz Rundfahrt 2016
2016 leite ich die Schweiz Rundfahrt welche auf der Etappe von Crans Montana nach Villars eine Gondelfahrt vom Sanetschpass nach Gsteig beinhaltet. Eigentlich will ich mir diese Gondel unbedingt noch anschauen und der morgige Tag verspricht ausserordentlich mild zu werden. Ideale Voraussetzungen für eine traumhafte Herbsttour im Wallis.
Samstag, 7. November: Planung
Ich liebe den Herbst im Wallis. Die Farben sind traumhaft, unvergessen bleibt eine Wanderung vor ein paar Jahren zur Moosalp.
Hinzu kommt ein beunruhigendes Speckröllchen am Bauch infolge mehrwöchiger Rad-Schlappheit. Ein Anruf beim Gondelbahnbetreiber – resp. ein ewiges Klingeln – bringt die Gewissheit, dass die den Betrieb bereits eingestellt haben trotz perfekter Wanderbedingungen. Das Gejammer der Schweizer Tourismusbranche kann ganz schön nerven wenn man die Gelegenheiten nicht beim Schopf packt.
Angesichts der Unmöglichkeit, die Gondelbahn zu testen droht das Projekt zu kippen, vor allem weil ich um 5 Uhr aus den Federn muss. Glücklicherweise kann ich den inneren Schweinehund überwinden. Da die Planung, mit der Gondel nach Gsteig zu gelangen und von dort nach Hause zu fahren, nun hinfällig ist, muss noch ein weiterer Berg rein. Der Lac de Moiry bietet sich an, der ist nämlich bei der Schweiz Rundfahrt ebenfalls eingeplant. Also früh mit dem Zug zum Lac de Moiry, über Vercorin zurück ins Tal, auf der gegenüberliegenden Seite hoch zum Col du Sanetsch und dann schauen wir mal weiter.
Die Route wird am Tourenplaner erstellt und mit einer Steigrate von 900Hm/h berechnet. So sollte es passen, mit dem ersten Tageslicht in Visp loszufahren und bis zum Sonnenuntergang durchzufahren. Ich hoffe bei diesen Werten den ganzen Tag praktisch ohne Nahrungszufuhr fahren zu können und dem Speckröllchen Herr zu werden. 2 Notriegel werden eingepackt welche eh längst über dem Verfallsdatum sind.
Sonntag, 8. November: Durchführung
Um 04:45 klingelt der Wecker, Kaffee, Frühstück, 15km mit dem Rad zum Bahnhof nach Bern. Ganz schön frisch ist es. Ein Minimum an Ballast ist an Bord: kurze Hose, Thermounterhemd, kurzes Trikot und Windweste.
Wie geplant geht es mit dem ersten Licht los von Visp durchs Haupttal. Es soll 16 Grad warm werden. Aber davon ist noch nicht viel zu spüren. Die ersten 25km bei 0,5°C der Rhône entlang sind ganz schön garstig, bis dann endlich die Sonne über die Berggipfel lugt.
Dem virtuellen Garmin Gegner bin ich eine Nasenlänge voran als es in Anstieg zum Lac de Moiry geht.
Virtuelle Gemeinheit N° 1: Hier wurde die Strasse neu verlegt und ich irre etwas ziellos umher während der virtuelle Partner an mir vorbeizieht und über eine nicht mehr existierende Strasse in den Anstieg reindübelt. Endlich finde ich den Weg und geniesse die aufkommende Wärme durch die physikalische Leistung.
Die Strassenführung in diesem unteren Teil ist toll. Erst unzählige Serpentinen und sobald man im Seitental drin ist wird es wilder. Die Sonne zeigt sich immer mehr und es lässt sich erahnen was das für ein Spektakel wird heute.
Den virtuellen Partner hole ich langsam aber sicher ein, es folgt aber die nächste Ungerechtigkeit: der Blasendruck zwingt zu einem Boxenstopp. Ich verliere 90 Sekunden auf den virtuellen Gegner, da hat das Boxenteam gut gearbeitet! Trotzdem bin ich genervt dass ich mir diesen Rückstand eingehandelt habe. Es folgt eine kurze Abfahrt hinter Vissoie, die Strasse ist noch nass und glücklicherweise kehrt Vernunft ein: ich lege mich doch jetzt hier nicht mit meinem geliebten Rennrad und der schicken Alé Kleidung auf den Asphalt wegen dem blöden virtuellen Partner.
Bald erreiche ich eine Schranke, Wintersperre wegen Lawinengefahr. Natürlich völlig unbedenklich da kein Schnee liegt, auch nicht in höheren Lagen. Es hat auch viele Wanderer die diesen Tag geniessen. Und der restliche Weg zum Lac de Moiry wird wirklich zum erhofften Genuss. Traumhafte Ausblicke und völlige Ruhe und Abgeschiedenheit. Irgendwann kommt die imposante Staumauer in Sicht und nun sind es noch ein paar Kurven. Aber ein Tunnel, den man durchfahren müsste, ist schon verrammelt. Ich muss also kurz vor dem Lac de Moiry umdrehen. Der virtuelle Gegner fährt natürlich hoch und so kann ich ihn wieder überholen und sogar noch etwas von einem Riegel naschen.
Ich wähle den Weg über Vercorin zurück ins Tal. Will wissen ob wir diesen Schlenker nächstes Jahr bei der Schweiz Rundfahrt auch noch einbauen. Der Zwischenanstieg tut aber ganz schön weh, Steigungen um 12%. Aber die Ausblicke lohnen sich und die Abfahrt nach Granges (VS) ist schnell und genial. Lohnt sich!
Das Adrenalin verleitet nun zu der irren Annahme dass ich es heute vielleicht sogar wieder bis zurück nach Visp schaffen könnte. Aber wie so oft bringt das Flachstück, das ich jetzt so rasch wie möglich hinter mich bringen will, die Tatsachen ans Licht: ich habe tierisch Kohldampf.
Endlich beginnt der Anstieg zum Col de Sanetsch. Hier habe ich zu wenig Acht gegeben bei der Planung. Der virtuelle Gegner fährt schnurstracks durch die Weinberge. Zu steil für mich, das würde mir jetzt den Stecker ziehen, ich bleibe lieber auf der Strasse. Weiter oben begegnet mir noch ein Radfahrer der einen Platten aber keine Pumpe hat. Ich helfe ihm aus und gebe mich endgültig geschlagen. Soll der virtuelle Partner doch gewinnen. Ich spüre eh dass meine Kräfte schwinden und ich die 900 Hm/h nicht mehr halten kann. Hinzu kommt, dass die Strasse wegen einem Erdrutsch in einer Linkskehre saniert wird. Zuerst fahre ich falsch, aber nette Wanderer helfen mir auf den richtigen Pfad, auch wenn ich ein Stück schieben muss.
Was sich nun landschaftlich offenbart ist das Grossartigste was ich in der Schweiz je gefahren bin und insgesamt eine der schönsten Auffahrten die ich kenne. Leider leidet der Genussfaktor etwas unter meinem angeschlagenen Zustand, aber es ist grossartig. Ein abenteuerlicher Tunnel ist stockdunkel da unbeleuchtet (die Strasse ist ja eigentlich gesperrt), aber ich habe für die morgendliche und abendliche Fahrt von mir zu Hause nach Bern Licht dabei.
Hinter dem Pass folgt eine Abfahrt zum Stausee. Das will ich mir natürlich noch anschauen, wohl wissend dass diese 200 verlorenen Höhenmeter bei der Rückfahrt noch schmerzen werden. Das Restaurant am Stausee ist noch geöffnet. Jetzt muss ich dringend was essen. Glücklicherweise kann ich noch etwas Käse und Brot ergattern, denn ich werde gewiss der letzte Gast in dieser Saison sein, da die Hütte wird gerade dicht gemacht wird. Daher herrscht hier auch so eine ganz spezielle, aber sehr witzige «Endzeit-Stimmung».
Die Sonne verschwindet langsam hinter den hohen Gipfeln und ich nehme besagte 200 Höhenmeter zurück zum Col du Sanetsch in Angriff. Keine Rede mehr davon dass ich noch nach Visp fahre. Ich bin froh, heil runter zu kommen und steige in Sion ziemlich geplättet in den Zug. War auch so schon grossartig am 8. November noch so eine Tour fahren zu dürfen!
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