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Rennrad & Winter – eine Anleitung

Rennrad fahren im Winter ist auch in unseren Breitengraden möglich und macht sogar Spass. Meine Grundlage für die Rennrad Touren und Reisen hole ich mir mit dem Arbeitsweg. Das sind ca. 170km pro Woche. Die häufigste Frage: «Auch bei schlechtem Wetter? Auch im Winter?»
Klar, das geht, sogar recht gut. Weil sich mit jedem Winter neue Erfahrungen ansammeln, hier eine Anleitung. Zur Nachahmung empfohlen, denn

  • im Frühling hat man tollen Druck auf dem Pedal
  • der Frühling und die Vorfreude darauf ist noch schöner
  • man nimmt die Jahreszeiten bewusster wahr
  • die sportliche Tätigkeit an der frischen Luft verringert die Anfälligkeit für Erkältungen
  • der oft zitierte Winterspeck gehört der Vergangenheit an
  • im Winter lernt man Radfahren, spürt den Grenzbereich, wie man das Rad wieder fängt. Die Fahrtechnik verbessert sich was sich auch auf der nächsten Alpenpass-Abfahrt bemerkbar macht
  • man baut eine Kältersistenz auf, sehr nützlich bei einem ungeplanten Wetterumschwung auf einer Tour im Hochgebirge, wo auch im Sommer alle Wetterphänomene eintreten können

Winterausrüstung

«Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung». Das stimmt, fast. Schneeregen um den Gefrierpunkt sind die einzigen Bedingungen, die ich schier unerträglich finde.
Will man den Winter gut meistern, ist eine grössere Investition in gutes Material unumgänglich. Greift man zu billigem Zeug, wird man sich dafür hassen das erste Mal wenn die Bedingungen haarig sind. In ein bis zwei richtigen Winterwochen werden Material und Fahrer auf eine härtere Probe gestellt als im ganzen Sommerhalbjahr. Zudem: die hochwertigen Kleidungsstücke werden auch auf manch einer alpinen Rennradtour ihren Zweck erfüllen.

Zwiebelprinzip

Jeder kennt es, gerne wird dabei der Kern der Zwiebel vernachlässigt: Das Kälteempfinden ist trainierbar. Man sollte den Herbst dazu nutzen und nicht gleich volles Programm anziehen wenn es am Morgen mal etwas frisch ist. Dann friert man halt, das schadet nicht. Eine gewisse Abhärtung lässt einen die unangenehmen Tage viel einfacher ertragen.
Danach geht es nach besagtem Zwiebelprinzip Schicht für Schicht nach aussen. Ich nutze:

  • Thermo- oder Merino-Unterhemd
  • kurzes Trikot
  • bei grosser Kälte ein Windstopper Unterhemd
  • ein dickes Langarmtrikot
  • eine Softshelljacke
  • bei Temperaturen unter -10°C eine Regenjacke als Windschutz
  • bei Temperaturen unter -15°C ein Stirnband über die Ohren
  • Beinlinge oder Winterhose ohne Polster
  • Merino-Socken
  • Winterschuhe
  • Zehenschützer oder Überschuhe, bei grosser Kälte beides gleichzeitig
  • Handschuhe diverser Ausprägung je nach Kälte
  • bei zweistelligen Minusgraden dünne und dicke Handschuhe
  • Brille
  • Wenn es ganz kalt wird etwas Vaseline ins Gesicht

Fuhrpark – möglichst emotionslosrennrad_winter_inline_1

Dass das Material im Winter leidet, liegt auf der Hand. Wie arg es leidet, verdeutlicht vielleicht nebenstehendes Bild. Und weil der Fahrer selbst auch leidet, ist die Motivation, am Abend noch Radpflege zu betreiben, gleich Null. Es lohnt sich daher, einen eher emotionslosen Winter-Fuhrpark sein Eigen zu nennen – vorausgesetzt der nötige Platz ist da. Die Räder kaufe ich immer auf einer Velobörse. Nach ein paar Jahren müssen sie sie in der Regel ersetzt werden. Das Salz lässt auch Alurahmen korrodieren, Schwachstelle ist in der Regel die Schweissnaht Tretlager-Kettenstrebe.

Meine Räder:

  • Mein Lieblingsrad für trockene Sonntagsfahrten so lange noch kein Salz gestreut wurde
  • Ein gutes Trainingsrad für Sonntagsausfahrten und trockene Arbeitswege
  • Ein Rennrad mit Schutzblechen für nasse Arbeitswege
  • Ein Crosser mit Stollen wenn Schnee liegt
  • Ein Crosser mit Spikes für eisige Verhältnisse

Man mag nun einräumen dass das ordentlich ins Geld geht. Stimmt, zusammen mit der Kleidung legt man einen gehörigen Batzen hin, kauft aber auch selten alles aufs Mal. So ausgerüstet lässt sich der Arbeitsweg aber ganzjährig mit dem Rad bestreiten und die Einsparungen bei Zugabo und/oder Auto sind deutlich grösser als die Ausgaben für die Räder.

Der Winter ist kein Monster

Die Skitourenfahrer und Langläufer haben es einfacher. Sie freuen sich auf Schnee und Winter. Für den reinen Rennradfahrer wird die Argumentation etwas schwieriger.

Alles eine Kopfsache

Wenn das Material passt, liegt der Ball also nun beim Fahrer. Die Einstellung gegenüber dem Winter ist sehr wichtig. Mit einer negativen Einstellung lässt sich schon der wunderbare Herbst nicht mehr richtig geniessen, weil man in den kürzer werdenden Tagen immer den unvermeidbaren Winter sieht. Offenbar hat sich das Klima ja so gewandelt, dass der Winter immer später beginnt. Man sollte die frühen Wintermonate – die ja üblicherweise noch gar keine sind – nutzen um deren schöne Seiten zu geniessen.

Chronologie meines Winters:rennrad_winter_inline_2

  • Oktober: Der Herbst von seiner schönsten Seite
  • November: Oftmals noch traumhafte Martini-Sommer Tage, die Farben sind intensiv, die Sonne wärmt noch. Auf dem Arbeitsweg Tagesanbruch mit dem schönsten Alpenpanorama des ganzen Jahres
  • Dezember: Oft ein recht trockener Monat, die Singularität «Weihnachtstauwetter» bringt trügerische Frühlingsgefühle, mystisch anmutende Nebelstimmungen
  • Januar: Der schlimmste Monat, jetzt beginnt der Winter oftmals erst richtig obwohl man schon etwas weichgekocht ist. Der Monat dauert ewig. Hier hilft mir ein traditioneller Abstecher nach Ligurien im Februar als Rettungsanker. Und eine Bauernregel: „Ändi Jahr ä Chatzesprung, Ändi Januar ä ganzi Schtung„. Berndeutsch für: Ende Jahr ein Katzensprung, Ende Januar eine ganze Stunde. Gemeint ist natürlich der Zugewinn an Tageslicht seit der Sonnenwende am 21./22. Dezember.
  • Februar: Nicht viel besser als sein mieser Vorgänger, der Januar. Immerhin üblicherweise drei Tage kürzer als selbiger und das Licht kehrt zurück. Rettungsanker Ligurien.
  • März: Es gibt schon richtige Frühlingstage, die Sonne gewinnt an Kraft. Leider auch vermehrt und viel zu oft Wintereinbrüche welche nicht ganz einfach zu verkraften sind.

Schlussendlich muss jeder seine eigene Strategie entwickeln, was ihm am Winter gefällt. Aber der Winter hat viele schöne Seiten. Für mich ist es die Schneelandschaft, oder nach einer dreistündigen Ausfahrt zufrieden und müde nach Hause in die gemütliche Stube zu kommen und eine warme Ovomaltine zu trinken. Oftmals sind es kleine Sachen, die man nur im Winter erlebt, auf die man sich freuen kann. Was aber unbestritten ist: der Winter hat eine karge, aber absolut sehenswerte Ästhetik. Diese sieht man am besten auf dem Rad. Und alleine deshalb lohnt es sich, das Rennrad auch in diesen Monaten aus dem Keller zu nehmen. Diesen Winter habe ich versucht, diese Ästhetik zu dokumentieren. Die schönsten Bilder habe ich in der Galerie am Ende des Beitrages hochgeladen.

Zum Schluss: Abwärme nutzen

Ein Trainingstipp zum Schluss, auch wenn er etwas «rustikal» tönen mag: Auf den Trainingsfahrten wähle ich die Kleidung bewusst so, dass es «gerade so» reicht. Das bedeutet, dass ich friere wenn ich bummle. Erst genügend Abwärme vom Motor verhindert den äusserst unangenehmen Auftauschmerz von Finger und Zehen. DAS ist eine richtig gute Trainingsmotivation und hat mich in den letzten Jahren ein ordentliches Stück vorangebracht.

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Ein Beitrag von:
Lukas Kamber
Italophiler Schweizer. Geboren in einem kleinen Bauerndorf nahe Bern, war das Rad von Kind an ständiger Begleiter zwecks Mobilität. Viel zu spät – dafür umso intensiver – die Liebe zum Rennrad wiederentdeckt und damit das Naturerlebnis in den Bergen. Aktuell sind offroad Entdeckungsfahrten mit dem Gravelbike hoch im Kurs.
1 Kommentar
  1. Barbara Mohr sagte:

    Diese Anleitung kann ich wärmstens empfehlen..
    Falls es einmal zu einer ganz prekären Kältesituation auf einer Ausfahrt kommt helfen mir jeweils intensive Gedanken an Sir Henry Shakleton – auch bekannt als „der Mann der seine Stiefel ass“.
    Buchtipp für alle die sich vornehmen dem Winter künftig gelassen entgegenzusehen:
    Alfred Lassing, 365 Tage im Eis- die Shakleton Expedition
    ISBN-13: 978-3442150427

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