Stoppschild mit zwei Wegweisern Homework und Procrastination
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Die sagenhaften Vorteile des Aufschiebens

Das Problem

Seit drei Wochen quietscht mein Rennrad beim Bremsen. Mit ziemlicher Sicherheit liegt das daran, dass die hinteren Bremsbeläge sich in einem Zustand befinden, der nur noch mittels eines Mikroskops dokumentierbar ist. Man könnte sich nun überlegen, sie zu wechseln. Ich gestehe an dieser Stelle: Ich weiss nicht, wie das geht. Für den Fachmann reut mich das Geld, und meine technikaffinen Kollegen bauen mir gerade ein Bahnrad zusammen. Ich will sie nicht mit solchen Banalitäten bei der Arbeit stören.

Die einfachste Lösung. Aber …

Das Geräusch und ich fahren noch eine Woche weiter, dann bekommt es Gesellschaft von der vorderen Bremse. Als Meisterin des Aufschiebens erwäge ich verschiedene Optionen:

Nach der Theorie von Ockhams Rasiermesser, wonach die naheliegendste Lösung meist die Richtige ist, müsste sich das Problem am Besten durch einfaches Nichtstun lösen lassen. Andererseits möchte ich in der Zeitspanne, welche die Lösung braucht, bis sie den Weg zu mir findet, gerne auch anders als im topfebenen Gelände fahren, wo Bremsen überflüssig sind.

Option zwei beinhaltet Geld, welches ich dringend für ein neues Trikot benötige. Weitere Möglichkeiten fallen mir nicht ein. Mir wird klar, dass sich dieses Problem nicht innert nützlicher Frist von selbst erledigen wird.

Vom Vorsatz zu Origami …

Ich muss handeln. Und zwar indem ich die Beläge selber wechsle. Glücklicherweise bietet YouTube für jede Lebenslage mindestens zehn selbst ernannte Spezialisten, die ihre mehr oder weniger zweifelhaften Fachkenntnisse mit der Welt teilen. Wobei manche ganz interessant sind. Die Bremsbeläge können noch zehn Minuten warten. Im Hinblick auf lange Winterabende speichere ich rasch ein Video mit Origami-Faltanleitungen für meine Jüngere und einen Beitrag mit Flechtfrisuren für meine Ältere und ihre zehn besten Freundinnen.

… zu Reiskuchen …

Das Stichwort »Rennrad« führt zwar noch nicht direkt zum Bremsbelagwechsel, aber immerhin zu einem Video mit einer Kochanleitung für selbstgemachte Reiskuchen, was das Problem der Kohlehydratzufuhr unterwegs lösen würde, da man irgendwann einfach alle Müsliriegel durchprobiert und keinen davon mehr sehen kann. Ich notiere mir das Rezept und blicke, ehrlich, nur aus den Augenwinkel auf die Vorschau der darauffolgenden Videos.

… zu Peter Sagan …

Und da ist er: Gott. Und zwar in Form von Peter Sagan. Er hebt Gewichte in der Grössenordnung von LKW-Rädern, geht in den Handstand, in den Spagat und aus dem Spagat in Vorlage, ohne den Boden zu berühren. Seine Rumpfmuskulatur muss die Konsistenz eines Stahlträgers aufweisen. Ich bin hin und weg.

Konnte ich erwähnen, dass ich ein Selfie mit Peter Sagan besitze?

… zu Abfahrtstechnik …

Im Anschluss folgt seltsamerweise eine Anleitung zum Veloputzen, die ich rasch überspringe. Es geht mir ja um Bremsbeläge. Aber die Videos mit Übungen zur Abfahrttechnik, die ein Fahrradclub aus Niederösterreich eingestellt hat, sind ganz gut gemacht. Ich schaue mir die gefilmten Abfahrten mehrmals in Zeitlupe an und merke mir die Erklärungen zu Linienwahl und Gewichtsverteilung. Ich überlege mir gerade, ob ich mit einer verbesserten Abfahrtstechnik eventuell auch mit inexistenten Bremsbelägen noch eine Woche weiterfahren könnte, als es an der Haustür klingelt.

Doch wer sagt’s denn? Klappt doch

Der Sohn meines Nachbarn steht vor der Tür. Er erklärt mir schüchtern, dass er nächsten Monat ein Praktikum als Velomechaniker mache und schon mal ein paar Übungsobjekte suche. Meine quietschenden Bremsen hätten seine Oma die letzten drei Wochenenden aus dem Mittagsschlaf gerissen. Ob er er vielleicht …?

Grosszügig überlasse ich ihm mein Rad. Ockham war ein schlauer Mann. Erstaunlich, wie viele Dinge sich von selbst erledigen, wenn man ihnen nur die nötige Zeit dafür lässt. In der nun gewonnenen Zeit schaue ich mir nochmals das Video mit Peter Sagan an. Habe ich bereits erzählt, dass ich ein Selfie …?

Ein Beitrag von:
Barbara Moosmann
Beheimatet im Berner Seeland. Viel unterwegs zwischen Seen, Bergen und den Bäckereien auf der Strecke, meist in der Schweiz und im angrenzenden Ausland. 2015 die Liebe zum Rennradsport entdeckt, seither jedes Jahr eine merkliche Steigerung der Besessenheit (und des Könnens).
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