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Balmberg – krönender Abschluss einer Juratortur

Prolog: Suboptimale Aussichten

Für Himmelfahrt 2010 und das folgende Wochenende versprach der Wetterdienst eine Wetterlage, die seit der Klimaumstellung im Winter 1987/88 in Mitteleuropa nur noch in ganz seltenen Fällen auftritt: Es sollte für die Jahreszeit deutlich zu kalt werden. Pech für mich, denn gerade an jenen Tagen hatte ich Zeit und geplant, einen kurzen Radurlaub im Jura zu unternehmen. Weil ich ungern Dinge verschiebe und noch nie im Jura gewesen war, beschloss ich, das Wetter zu ignorieren, und legte trotzdem los. Die ersten beiden Tage in der Nähe von Yverdon-les-Bains und im Hinterland von Pontarlier waren dann zwar so kalt, aber nicht so regnerisch wie angekündigt. Ein paar nette Strecken konnte ich bei mehr oder weniger akzeptablen Bedingungen absolvieren (u.a. Mont-Tendre, Col de l’Aiguillon und Mont d’Or).

Am dritten (und letzten) Tag allerdings war Schluß mit lustig, und ein Drama in mehreren Akten nahm seinen Lauf. Als ich früh morgens durch Solothurn radelte, schwante mir schon Böses. Die Temperatur war noch niedriger als an den Vortagen und es nieselte leicht. Beste Bedingungen also, um die Drei-Pässe-Königsetappe meines sonnendurchfluteten Himmelfahrtstrips anzugehen.

Erster Akt: Schmerzen am Morgen

balmberg-jura-rennradtour-landschaftOrtskundige mögen schon ahnen, mit was die Etappe beginnen würde: dem Weissensteinpass. Und dazu noch mit seiner Südseite, berühmt-berüchtigt bei allen Jura-Conaisseuren. In Anbetracht der widrigen Umstände war mein Schlachtplan, die Sache locker angehen zu lassen, und wenn es zuviel wurde, abzubrechen und nach Solothurn zurückzukehren.

Und es ward schlimm. Mühsam kreuchte ich im Nebel die Wand hinter der Doppelserpentine oberhalb von Oberdorf hinauf. Zu Kälte und Regen gesellte sich unerwarteter Unbill. Ich bekam nämlich tierische Adduktorenschmerzen. Vermutlich waren die Beine noch nicht richtig warm. Die Schmerzen versuchte ich zu übertünchen mit wilden Anfällen von schlechter Laune. So sehr war ich mit mir selbst beschäftigt, dass ich auf dem Flachstück in der oberen Hälfte glaubte, die Passhöhe schon erreicht zu haben. Leider tauchte im Nebel noch eine Rampe auf. Fluchend schlingerte ich voran. Auf der Passhöhe würde ich umdrehen, runter nach Solothurn, Rad ins Auto und ab nach Hause. Soviel war mal sicher.

Oben angekommen lehnte ich völlig frustriert das Rad an ein Schild oder was auch immer dort stand. Es war schweinekalt, hatte aber aufgehört zu regnen. Ich stapfte ein paar Mal im Kreis, um das Ziehen in den Adduktoren in den Griff zu bekommen. Wenigstens das schien besser zu werden. Seufzend schwang ich mich aufs Rad und fuhr ab.

Aber nicht nach Solothurn! Sondern in die andere Richtung. Dieses Mistwetter würde mich nicht kleinkriegen. Die Tour war so geplant, also würde ich sie so auch gnadenlos durchziehen. Als ich im Tal vor Gänsbrunnen ankam, waren meine Kauleisten beinahe durchgeknirscht. So zerfroren hatte mich nämlich die Abfahrt. Passende Begleitung hatte die eisige Luft zudem durch einen Regenschauer bekommen, der kurz vor Schneefall war.

Intermedium: Wo kommt dieser Buckel her?

Der nächste Pass auf meiner Tour war der Scheltenpass. Da ich ein cleverer Planer bin, der alle Eventualitäten berücksichtigt (dachte ich zumindest), wollte ich nicht über die Hauptstraße Moutier – Delémont nach Mervelier an den Fuß des Passes, sondern von Crémines aus durch die jurassische Pampa. Bestimmt war die Strecke ruhiger, kürzer und schöner.

Ruhig ist die Strecke. Und möglicherweise ist sie schön. Bei dem Wetter war das für mich schwer zu beurteilen. Definitiv war die Strecke aber anders, als ich mir sie vorgestellt hatte. Anstatt leicht wellig stieg sie an und an und an. Aus dem angedachten entspannten Pedalieren wurde ein verspanntes Aufwärtsstampfen. Am Ende stand ich dann an einem Gehöft hinter Corcelles. Nebendran war der Anstieg sogar mir einer Art von Passschild ausgestattet. Pâturage Derrière konnte ich dort lesen, knapp 800 m hoch. Irgendwie schien ich den Buckel bei der Planung übersehen zu haben. Meine Drei-Pässe-Tour war also unversehens um einen Pass reicher geworden. Kein allzu fordernder Pass, aber bei den Bedingungen machte Kleinvieh auch Mist.

Hinter dem Pâturage-Buckel stürzte die Straße ab in eine enge Schlucht und führte an einem Bach entlang weiter bis Vermes. In Vermes fragte ich mich durch bis zu dem asphaltierten Wirtschaftsweg, der rüber nach Mervelier führte. Der Weg zog, was so ebenfalls nicht angedacht war, steil am Waldrand hinauf. Ich schwor mir, nie wieder blind irgendwelche Neben-Nebenstraßen im Jura zu fahren. Vorbei an kahlen Feldern, in denen schockgefrorene Hasen hockten, fuhr ich ab nach Mervelier. Vermutlich war es nicht besonders schlau gewesen, dieses dann doch kräftezehrende Rodeo über Nebenstraßen auf mich zu nehmen, wenn ich auf der Hauptstraße flach und ohne große Mühen bis Mervelier hätte kommen können. Aber hinterher ist auch der schlaueste Planer schlauer.

Egal, auf zum Scheltenpass!

Zweiter Akt: Mühsal am Schelten

balmberg-jura-rennradtour-weite-taelerWer den Scheltenpass kennt, weiß, dass die erste Hälfte surreal ist. Die Straße steigt immer wieder steil an, und fällt dann gleich wieder ab. Ich trat in die Pedalen und fragte mich, ob man die Geschichte nicht etwas benutzerfreundlicher hätte gestalten können.

Etwas Positives gab es aber zu vermelden. Die Adduktorenschmerzen hatten sich bis auf ein taubes Gefühl an den (Schwach)Schenkelinnenseiten verflüchtig. Auf der Negativseite standen wieder einsetzender Regen, noch dichterer Nebel als am Weissenstein und ein ätzender Gegenwind. Summasummarum, die Adduktorenschmerzen hätten den verschmorten Braten auch nicht weniger fett gemacht. Das einzige, was mich aufheiterte, war der der Gedanke, daß ich auf dem letzten Drittel meiner Tour Rückenwind haben würde. Denn ab Balsthal würde ich in Gegenrichtung in einem Tal unterwegs sein, das parallel zur Scheltenstraße verlief.

Der Scheltenpass endete mit zweieinhalb ziemlich knackigen Kilometern. Während ich diese schon ziemlich angeschlagen hinaufkurbelte, hörte ich hinter mir ein sich näherndes Keuchen und Krauchen. Es klang ungefähr so wie ein weidwunder Rehbock, der Blut hustete. Schwer vorstellbar, dass man bei dem Wetter von einem halbtoten Tier verfolgt wurde. Es musste also etwas anderes sein.

Mit dem Gekeuche im Nacken erreichte ich die Passhöhe. Kaum ausgeklickt, zischte ein Rennradfahrer an mir vorbei. Kurze Hose, kurze Ärmel, Windjacke. Wie der das aushielt bei den vier oder fünf Grad, die es hatte, war mir ein Rätsel. Vielleicht Frostschutz im Bidon? Ihn zu fragen war nicht möglich, so schnell hatte ihn der Nebel verschluckt.

Die Abfahrt vom Schelten gestaltete sich, wie konnte es auch anders sein, mühsam. Viel zu sehen gab es nichts. Eine nasse Straße im Nebel eben. Mittendrin zog ich mir die Regenjacke aus, weil es aufgehört hatte zu regnen, und zog sie mir wieder an, weil es wieder anfing zu regnen. Auf der Fahrt durchs Guldenthal blies mir der Wind kräftig entgegen. Es war alles nicht mehr lustig, aber bald würde es vorbei sein, weil hinter Balsthal nur noch ein kurzer Paß bis Solothurn folgen würde. Dachte ich….

Intermedium: Was der kann, kann ich auch!

An der Kreuzung mit der Passwangstraße, an der es rechts nach Ramiswil und weiter nach Balsthal geht, fegte der als Rennradler verkleidete Eskimo an mir vorbei. Und zwar vom Passwang runter. Will heißen, in der Zeit, in der ich vom Scheltenpass abgefahren war, war er auch vom Scheltenpass abgefahren, auf den Passwang gefahren und vom Passwang abgefahren.

Das war jetzt ein ordentlicher Schlag ins Kontor. War ich wirklich die Schnecke unter den Jura-Rennradlern? Es gab es nur einen Weg, die Schlappe wieder gut zumachen. Ich musste auch zum Passwang hoch.

Gesagt, und… nicht sofort getan. Die zum Glück wenigen Kilometer tropften vorbei wie gestockter Honig. Langsam wurden die Beine doch sehr müde. Verdammt müde. Irgendwann stand ich dann am Passwang-Tunnel. Noch ein ungeplanter Paß mehr auf meiner Drei-Pässe-Runde. Am Tunnel gab es genauso viel Aussicht wie am Schelten, nämlich keine. Ich schaute buchstäblich in die Röhre.

Dritter Akt: Dem Scheitern steht nichts mehr im Weg

balmberg-jura-rennradtour-sanfte-huegelVom Passwang runter lies ich es locker rollen. Ramiswil zog vorbei. Balsthal kam in Sicht. Schon seit geraumer Zeit bzw. schon seit hinter Oberdorf fühlte ich mich alles andere als spritzig, und ich beschloss, eine längst überfällige Pause zu machen. In irgendeiner Bäckerei würde ich mir eine Cola ziehen und ein Brötchen reinpfeifen.

Tja, und dann war ich durch Balsthal durch und hatte keine Bäckerei gefunden. Zum Umdrehen fühlte ich mich zu schlapp. Also keine Pause. Einfach Augen zu und durch. Solothurn war nicht mehr weit.

Von Balsthal aus fuhr ich auf einer breiten Straße Richtung Welschenrohr. Es ging nicht wirklich rund voran. Warum wohl? Ich hatte Gegenwind! Am liebsten hätte ich mich in den Straßengraben fallen lassen. Wie konnte es denn sein, dass in zwei nebeneinander verlaufenden Tälern in dem einen der Wind aus Osten kommt, in dem anderen aus Westen? Irgendwie passte das zu der ganzen verfahrenen Situation. Was für eine Idee, an so einem Tag stundenlang auf dem Rad zu sitzen. Nie wieder!

Vor Welschenrohr zog die Straße an. Nicht besonders steil. Aber zu steil für mich. Völlig im Eimer rollerte ich in Zeitlupe voran. Nichts ging mehr. Schluchzend kam ich in Welschenrohr an. Was war los? Mit Schrecken stellte ich fest, dass nur einer meiner Ein-Liter-Bidons leerer war, und das auch nur halb. Ich hatte also bei all dem Ärger wegen Schmerzen hier, Regen da, Gegenwind von überall schlicht vergessen, zu trinken. Gegessen hatte ich auch nichts. Wie ein Anfänger war ich stundenlang durch den Jura gebollert, dem Hungerast entgegen.

Und vor mir lag noch ein Pass. Der war keine drei Kilometer lang. Wer jetzt denkt, daß ich mich wegen drei Kilometern nicht so anstellen soll, dem sei gesagt, dass der Pass der Balmberg war. Und einer seiner drei Kilometer ist der vermutlich steilste Kilometer des Schweizer Straßennetzes, mal abgesehen von irgendwelchen Rumpelwegen durch Walliser Weinberge. Nein, lieber Leser, der Pragelpass ist nicht steiler, falls dir das in den Sinn kommt. Der Balmberg hat eine Maximalsteigung von fast 30% und einen Kilometer mit 17% im Schnitt. Und der stand mir noch bevor.

Apotheosis: Balmberg, ist das alles?

An der Kreuzung der Welschenrohrer Hauptstraße mit der Balmbergstraße machte ich eine detaillierte Situationsanalyse. Entkräftet, entnervt, leicht dehydriert und unterzuckert. Das war ich. Oder anders ausgedrückt: ein menschliches Wrack stand am Fuß des Balmbergs, ohne eine Chance, diesen auf dem Rad zu erreichen.

Was aber eigentlich egal war. Die drei Kilometer konnte ich auch hochschieben, ohne befürchten zu müssen, nicht vor Mitternacht oben anzukommen. Aber direkt von unten wollte ich auch nicht schieben. Was sollten denn die Leute von mir denken?

Ich brütete also eine Strategie aus. Erst einmal weg mit der Regenjacke. Es regnete nämlich nicht mehr. Von Welschenrohr aus konnte ich eine Häusergruppe am Waldrand sehen (Schattenberg heißt sie wohl), an der die Balmbergstraße vorbei führte. Ich würde also erst einmal bis zu den Häusern fahren und in deren Schutz vom Rad rutschen und den Rest zu Fuß machen.

balmberg-jura-rennradtour-schroffe-felsenLos ging es! Langsam näherte ich mich den Häusern, voller Vorfreude, weil die Tortur bald vorbei war. Aber was war denn das? Vor dem ersten Haus stand ein Bauer am Wegrand, stützte sich auf seine Mistgabel und schaute mich abschätzig an.

Ja, Meister, wenn du nun denkst, ich mache vor dir einen Kniefall vom Rad runter, hast du dich getäuscht. Ich gab Gas, täuschte ein verzerrtes Grinsen an und fuhr in den Wald hinein. Dann würde ich eben im Schutz der Bäume absteigen, noch besser.

Müßig zu erwähnen, dass die Steigung mittlerweile enorm hoch war. Ich wuchtete mich voran, immer auf der Suche nach einem Plätzchen zum Ausklicken. Zweimal war ich kurz davor, aber man glaubt es kaum, auch am Balmberg gibt es Verkehr. Ich wartete also erst die Autos ab, bevor ich anhielt.

Leider zuviel gewartet! Auf einmal fiel vor mir eine S-Kurve einfach so zwischen den Bäumen herab. Mann, war die steil! So etwas hatte ich selten gesehen. Nun war es aber höchste Zeit zum Ausklicken.

Ging nicht! Das Ausklicken klappte nicht! Ich war so ohne Kraft, dass ich den Fuß nicht mehr aus dem Pedal bekam. Umfallen wäre auch keine Alternative gewesen, also musste ich die Kurve irgendwie angehen. Ich zog über die Straße nach links und beschloss, in der Mitte des umgedrehten „S“ wieder nach rechts zu wechseln. So würde ich die supersteilen Innenseiten vermeiden. Ich stemmte mich aus dem Sattel.

Dann kam der Blackout. Mir wurde schwarz vor Augen. Als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Als ich wieder zu mir kam, lag die Kurve hinter mir, aber, Oh Wunder, ich lag nicht auf der Straße. Ich war immer noch auf dem Rad. Wie ich das geschafft hatte, wüsste ich bis heute nicht zu sagen. Jedenfalls schoss ein Schwall Adrenalin durch mich, als hätte mir jemand eine Pferdespritze in den Hintern gejagt. Das war doch wohl die steilste Stelle am Balmberg. Und ich hatte sie geschafft. Und wenn ich sie geschafft hatte, dann gab es am Balmberg nichts, was ich nicht noch schaffen würde.

balmberg-jura-rennradtour-balmbergJa, Balmberg, hast du dir so gedacht, was? Du kriegst mich nicht klein. Ich hämmerte weiter voran. Alles war verflogen. Der Ärger, die Schmerzen, die Kälte. Ich fühlte mich blendend. Auf den letzten Metern schaltete ich hoch und schoss auf die Passhöhe zu, ready to kill. Mach Platz, Balmberg, hier komme ich!

Gerade als ich das Rad ans Passschild lehnte, kam ein Mountainbiker über die Kammstraße vom Weissenstein her. Ungläubig schaute er mich an und fragte, ob ich von da (er zeigte Richtung Welschenrohr) hochgekommen wäre. Klar, Mann, was denkst denn du, gibt’s noch einen anderen Weg zum Balmberg?

Epilog: He’ll be coming down the mountain when he comes!

Jubilierend schoss ich vom Balmberg nach unten. Das war es gewesen mit meiner Aus-Drei-Pässe-Mach-Fünf-Pässe-Tour. Günsberg flog vorbei, und schon war ich auf der Nationalstraße im Aaretal. Es fing wieder an zu nieseln, aber ich schoss mit so einem Affenzahn auf Solothurn zu, dass die Tröpflein praktisch an mir abprallten. Ich schmiss mein Rad in den Kofferraum, reckte und streckte mich, machte hundert imaginäre High-Fives mit mir selbst und trat das Gaspedal durch. Ab nach Hause. Au revoir, Jura.

Rückblickend kann ich sagen, dass mich diese Tour unter den gegebenen Bedingungen wirklich extrem gefordert hat. Den Balmberg durchzustehen war gewiss eine der größten sportlichen Leistungen in meinem Leben. Natürlich ist das, was ich vollbracht habe, nichts, was einem gut trainierten Radfahrer, geschweige denn einem Profi, mehr als ein müdes Lächeln entlocken würde. Aber mit solchen Leuten kann und will ich mich gar nicht messen. Es war hart, ich habe es geschafft, und dieses eine Mal, nur dieses eine Mal, war ich zufrieden mit mir…

Download file: AP_Balmberg.gpx
Ein Beitrag von:
Axel Peter
Axel ist einer unserer Gastblogger.
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