Grosse Scheidegg
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Grosse Scheidegg – Berner Oberland

Berner Oberland und Zentralschweiz – grosse Pässefahrt im Spätherbst

Interlaken schläft noch, als ich um 6.45 Uhr aus dem Zug steige. Ich lasse meine Froglights leuchten und steige auf. Bald wird sich weisen, ob ich richtig spekuliert habe, als ich vor etwa zwei Stunden vor dem Kleiderschrank gestanden habe. Über 15 Grad sind im Flachland angesagt, und auch in den Bergen soll es mild werden – aber es ist trotzdem November. Ich habe mich für das Risiko und gegen den Rucksack entschieden. So trage ich nun, durch die Dunkelheit Richtung Zweilütschinen rollend, ein kurzes Trikot und eine kurze Hose, dazu Armlinge und Beinlinge sowie eine Windweste. Es ist kühl, doch ich bin zuversichtlich. Bald bin ich am Fuss der einzigen zwei Kehren, die auf dem Weg nach Grindelwald zu überwinden sind. Die Strasse ist feucht, ein paar Autos und ein Lastwagen besprühen mich mit dem, was um diese Jahreszeit auch Glatteis sein könnte.

Grindelwald

In Grindelwald erhalte ich eine Lektion zum Thema Lokalklima erteilt. Im Tal, an dessen Ende die Eigernordwand emporragt, hat sich ein Kältesee gebildet. Mit Spätsommer ist hier nichts, dafür liegt Reif auf den Wiesen, und auf der Temperaturanzeige meines Radcomputers erscheint ein Minus vor der Zahl. Auch in Grindelwald ist tote Hose. Die Sommersaison ist längst zu Ende, und die Wintersaison wartet noch auf den Schnee. Am Hinterausgang eines Hotels steht ein Koch. Er raucht, friert und schaut mich an. Am Dorfausgang beginnt die Strasse wieder anzusteigen. Ich habe kalte Füsse und freue mich darauf, endlich an die Wärme zu kommen. Ich muss mich noch etwas gedulden, wie sich bald herausstellen wird.

Die Grosse Scheidegg

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Berghotel Gr. Scheidegg

Die Grosse Scheidegg (1968 Meter über Meer) ist etwas vom Schönsten, was die Alpen dem Rennradenthusiasten zu bieten haben. Ein schmales Asphaltband, das sich wie ein mäandrierender Fluss den Hang hinaufwindet, umsäumt von lieblichen Alpweiden und Fichtenwäldern und bewacht vom 3692 Meter hohen Wetterhorn. Auch im Sommer gibt es hier wenig Verkehr, denn für Motorfahrzeuge ist die Strasse gesperrt. Heute begegne ich auf dem schönsten Teil der Auffahrt, zwischen dem Hotel Wetterhorn und der Passhöhe, keiner Menschenseele. Ab und zu blicke ich ins Tal und bin froh, nicht mehr dort zu sein – man sieht auch von hier oben, dass dort unten alles gefroren ist. Der Strassenbelag auf dieser Seite des Passes ist ruppig. Man sieht und spürt noch die Asphaltflicken, die ganz neu waren, als Peter Sagan an der Tour de Suisse 2011 die Grosse Scheidegg hinunterraste und in Grindelwald die Etappe gewann.

Dann bin ich oben. Ich sauge die kalte Luft in meine Lungen und steige vom Rad. Die Stimmung ist traumhaft. Bis jetzt, kurz nach 9 Uhr, hat die Sonne es noch nicht bis hierher geschafft. Die Fensterläden am Hotel Grosse Scheidegg sind geschlossen, und neben der Strasse liegt ein Hauch von Schnee. Der Himmel ist blau – nur am Gipfel des Eigers hält sich ein Wölkchen fest. Ich höre kein einziges Geräusch.

Auf der Abfahrt wird es eisig. Wieder fällt die Temperatur unter den Gefrierpunkt, diesmal wohl, weil diese Seite der Grossen Scheidegg um diese Jahreszeit den ganzen Tag lang im Schatten liegt. Wieder liegt Reif – diesmal leider auch auf der Strasse. Ich rutsche und friere, und nach einiger Zeit kreuze ich eine Bergbäuerin, die mir in ihrem Subaru entgegenkommt und ihrem Gesichtsausdruck nach zu schliessen für meine Unternehmung wenig Verständnis aufbringt. Unten im Rosenlauital wird es langsam wärmer. Und dann, ich bin schon fast in Meiringen, kommt die Sonne. Die Bäume, das dürre Laub, ja sogar die Strasse – alles schimmert golden. So etwas Schönes gibt es nur im Herbst.

Traumhaft

Die nächsten Minuten sind wie ein Traum. Alles ist frisch, alles leuchtet, und hinter jeder Kurve präsentiert sich ein neues, wunderschönes Bild. Ich habe erwartet, auf der Hauptstrasse nach Innertkirchen von viel Verkehr heimgesucht zu werden, doch da ist niemand. Euphorisiert rausche ich durch die Kehren neben der Aareschlucht. Bald bin ich in Innertkirchen und biege ab Richtung Sustenpass. Wieder im Schatten beginnt die Kletterpartie hinauf zur Engstlenalp (1834 Meter über Meer). Ich esse eine Banane und ziehe ein erstes Zwischenfazit, was den Zustand meiner Beine angeht. Könnte schlechter sein, finde ich. Nach einigen Kilometern biege ich von der Sustenstrasse ab. Es wird steiler und schöner, und bald fallen wieder ein paar Sonnenstrahlen durch die Bäume.

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Engstlenalp

Die Strasse überwindet zuerst einige Hundert Höhenmeter und führt dann in einem stetigen Auf und Ab hoch über dem Aaretal dem Hang entlang nach Hasliberg und dann hinunter auf den Brünigpass. Bevor ich aber dorthin fahre, gönne ich mir den Abstecher auf die Engstlenalp. Diese liegt abgeschieden und idyllisch am Ende des Gentals. Die Stichstrasse verläuft zuerst flach einem Bach entlang. Dann beginnt sie anzusteigen. Erst im oberen Teil gibt es einige Kehren – wunderschön ist die Fahrt aber vom ersten Meter an. Bald wird es Zeit, Weste und Beinlinge abzustreifen. Die Sonne scheint mir in den Nacken, und es riecht nach warmem Fichtenharz. Als ich oben ankomme, herrscht nicht mehr der Morgenzauber wie noch auf der Grossen Scheidegg. Es ist jetzt richtig warm und ein paar Wandersleute knien schuhebindend neben dem Kofferraum eines Autos. Ich spare mir die Fahrt auf dem Schotterweg, der nach hinten zum See führen würde und lege mich stattdessen ein paar Minuten lang ins Gras und lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen.

Dann fahre ich zurück zur Verzweigung und setzte meine Fahrt Richtung Brünigpass fort. Noch einmal sind einige Höhenmeter zu überwinden. Jetzt müssen auch die Armlinge weg. Gekleidet wie im Sommer fahre ich durch den kahlen Wald und blicke hinunter ins Aaretal. Auch über dieses Strässlein hat sich die Tour de Suisse schon gezwängt. Es war im Jahr 2013, und auch diesmal hiess der Sieger Peter Sagan (im Video ab: 27:50).

Hasliberg

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Glaubenbielenpass

In Hasliberg setze ich mich auf die Terrasse eines Restaurants und gönne mir einen Liter Cola und eine Rösti mit Speck, Spiegelei und Käse. Mit diesem Klumpen im Bauch rolle ich hinunter nach Giswil. Erst dort wird mir bewusst, was ich mir zum Schluss für einen Brocken vorgenommen habe: Der Glaubenbielenpass liegt zwar auf nur 1611 Meter über Meer, es sind aber trotzdem fast 1200 Höhenmeter zu überwinden. Der Anstieg ist 12 Kilometer lang – da braucht man nicht lange zu rechnen. Nach unterdessen gut 3000 Höhenmetern spüre ich meine Beine nun deutlich, und die Rösti liegt mir schwer auf dem Magen.

Nach anderthalb Stunden bin ich trotzdem oben – gerade noch rechtzeitig, um die Sonne untergehen zu sehen. Ich rolle hinunter ins Entlebuch. Als ich in Escholzmatt in den Zug steige, ist es dunkel. Jetzt kann der Winter kommen.

Ein Beitrag von:
Adrian Moser
Geboren in Bern, zuhause in Zürich. Schon als Kind gerne Rad gefahren. Dann endlich ein Rennrad gekauft und sofort infiziert gewesen. Seither in jeder Saison ein paar Hundert Kilometer mehr als im Vorjahr. 2013 bei Winterausfahrten Lukas kennengelernt und so auf die Ligurien-Reisen aufmerksam geworden. Lieblingsgebiet ist vor allem die erweiterte Heimat: Flache Runden zum Rhein, knackige Hügel im Emmental, fiese Rampen im Jura und natürlich die großen Alpenpässe im Berner Oberland. Ansonsten gerne Italien, Frankreich und überall sonst wo’s schön ist, gerne auch mit Sack und Pack.
1 Kommentar
  1. Reto sagte:

    Ciao Adrian,

    Schön zu lesen!

    Grosse Scheidegg im November – das weckt Erinnerungen. Einige Male schon hat es bei mir dafür gereicht. So einsam und verlassen wie zu der Zeit ist es wohl sonst das ganze Jahr da oben kaum – so gesehen eigentlich beste Bedingungen…

    Gruss
    Reto

    Antworten

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